Inhalt: Wie gerne hätte ich hier eine hymnische Kritik geschrieben! Klaus Kordon ist einer der Schriftsteller-Helden meiner Kindheit und Jugend. Zahlreiche Bücher habe ich als Mädchen von ihm verschlungen, "Monsun oder der weiße Tiger", "Ein Trümmersommer", "Die roten Matrosen oder ein vergessener Winter", "Hände hoch", "Tschibaba". Fasziniert bin ich eingetaucht in die fremden Welten, die Kordon in seinen Büchern entwirft, die fernen Ländern und, öfter, vergangenen Zeiten. Kordon ist mit seinen Romanen ein Kunststück gelungen, das damals keinem Geschichtslehrer gelingen wollte: Er hat mich mit seinen anschaulichen, mitreißenden und klugen Geschichten für die Geschichte begeistert. Kordons Kinderroman "Marija im Baum" habe ich mir zur Rezension ausgewählt, weil ich hoffte, damit bestimmt ein gutes Buch zu besprechen. Zu Recht: Mit der Geschichte um drei deutsche Geschwister, deren Mutter gestorben ist, und die sich in den Ferien mit einem neu zugezogenen russischen Mädchen anfreunden, hat der Autor ein engagiertes und aufgeklärtes Buch über den Umgang mit Fremdheit und die Verständigung über nationale und Altersgrenzen hinaus geschrieben. Wie Kordon die leicht herbe Marija in ihrem verzehrenden Heimweh nach Russland und ihren Freunden darstellt, wie er die russische Kultur als gleichzeitig fremd und anziehend für die drei Geschwisterkinder Lukas, Ditte und Mi schildert, ohne dabei in klischeehaften Exotismus zu verfallen, und wie er, zum Glück wenig moralisierend, die unterschiedlichen teilweise feindseligen Haltungen der Erwachsenen gegenüber der russischen Familie beschreibt, das ist ohne Zweifel gelungen und zeugt von schriftstellerischer Souveränität. Auch die Entwicklung der Gefühle von Lukas, dem ältesten Sohn der deutschen Familie, für Marija werden auf anrührende und angenehm behutsame Art und Weise erzählt. Immer wieder blitzen feiner Humor und sprachlich schöne Stellen aus dem Text hervor: wenn von den lustigen Brombeeraugen einer alten Dame die Rede ist, wenn Marijas Augen vor Wut wie zwei böse, schwarze Feuerchen funkeln, ihr schwarzes Haar im Licht wie Rabenfedern glänzt und wenn sie so tief seufzt, als wäre ihr Bauch ein einziger endloser Brunnen. Dennoch wirkt Kordons neuer Roman streckenweise auf durchaus sympathische Art und Weise - tendenziell altmodisch, um nicht zu sagen altbacken. So spielen die drei Geschwister bei Regenwetter nicht etwa Computerspiele oder sehen fern, sondern erfreuen sich an gemeinsamen Brettspielen wie "Malefiz" und "Mensch ärgere dich nicht". Vor allem Lukas' innere Erzählstimme scheint teilweise zu altklug und erwachsen, um unmittelbar zu berühren, zum Beispiel, wenn er sich ärgert, "dass Marija gleich so fuchtig geworden war", wenn er erleichtert überlegt: "Wie schön, dass die ganze Sache so glimpflich abgelaufen war!", und wenn er großzügig darauf verzichtet, dem überführten Missetäter des Romans, der ihm vorher übel mitgespielt hat, eins auszuwischen: "Doch wenn einer schon am Boden liegt, soll man dann noch auf ihm herumtrampeln?", denkt Lukas, erstaunlich erwachsen und moralisch integer. Auch seine streckenweise zu ausschweifenden inneren Monologe, in denen er sich Gedanken über Fremdenfeindlichkeit und Moral macht, wirken wenig authentisch, was im Text selbst an einer Stelle passend kommentiert wird: "(Lukas) wurde später vom Vater für diese éWeitsicht' sehr gelobt. Er sagte sogar, das seien sehr vernünftige, schon fast erwachsene éErwägungen' gewesen." Der zentrale Konflikt des Romans - Marijas Vater, der in einem Warenlager arbeitet, wird wegen drei fehlender Farbeimer entlassen, die in Wahrheit nicht er, sondern ein dorfbekannter Halbstarker gestohlen hat - erscheint zudem, auch im Vergleich zu anderen aktuellen Kinder- und Jugendbuch-Plots, in seiner Harmlosigkeit nahezu rührend. Damit ist "Marija im Baum" vor allem gedanklich und sprachlich zu weit entfernt von heute lebenden Kindern, um ihre Lebenswirklichkeit überzeugend abzubilden, gleichzeitig aber wiederum nicht weit genug von ihnen entfernt, um sie durch den Zauber einer vergangenen Zeit zu verführen. Ein Glücksfall für den Text sind aber die wunderbar schrägen Illustrationen von Franziska Walther! Eine Portion von ihrem Schwung und ihrer Frechheit hätten auch der Erzählung gut getan. Systematik: K Umfang: 224 S. : Ill. Standort: K Kordo ISBN: 978-3-407-82046-4
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